KOMA
Horb am Neckar
Gnadenlose und schonungslose Realität
Betroffenheit und Wiedererkennung löste das Theaterstück „Koma“ von Lisa Sommerfeldt bei den Besuchern aus.
Südwestpresse Horb am Neckar 06.12.2018
von Hans-Michael Greiß
Eine starke Leistung als hilflose Person zeigte Elisabeth Marion Kaiser in „Koma“
Bild: Hans-Michael Greiß
Komasaufen bleibt ein Problem“ warnte Susanne Henning in ihrer Begrüßung die Gäste.
Zusammen mit dem Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe und der Angehörigengruppe hatte ihre Suchtberatungsstelle der Diakonie als Veranstalter Dorothee Jakubowskis Theaterwelten „Das Chamaeleon“ für die Aufführung im Steinhaus gewonnen. Bezogen auf 10000 Jugendliche belege der Landkreis Freudenstadt mit 71,2 Krankenhausaufnahmen wegen Alkoholvergiftung einen traurigen Rekord, Mannheim im Vergleich weise nur 17,6 Fälle auf.
Dank intensiver Werbung hatten Freundeskreise lange Wege auf sich genommen und arrangierten sich mit den eingeschränkten Sichtverhältnissen dieser ungünstigen Spielstätte.
Auf dem flachen Boden lag eine reglose Person, mit Abfällen überhäuft und von leeren Flaschen umringt. Mit herausgeworfenen Wortfetzen und fahrigen Bewegungen wachte ein junges Mädchen aus ihrem Alkoholrausch auf. Orientierungslos die Umgebung eines leeren Weihnachtsmarktparkplatzes ertastend, wechselten kurze Erinnerungsblitze mit Wutausbrüchen und Hasstiraden auf die Schwester Luise, die ihr den verklärten Schwarm Tom ausgespannt hatte. Kaiser gelang in packender Weise, allein in Mimik und sprachlicher Gewandtheit, die geschwisterliche Vertrautheit auf ihre Zuhörer überschwingen zu lassen, eine vor Liebeskummer schluchzende Luise, schmachtend vorgetragene Gedanken an Tom oder die Ekelgefühle über den Vertrauensbruch und die eigene Beschmutzung. Kaisers modulationsreiche Stimme zog alle mit ihrer Intensität in den Bann, sie erfüllte den dunklen Raum; niemand wagte, mit einem Räuspern die Spannung zu stören.
Unzusammenhängend kehrten die Vorfälle des Abends zurück: ein ausartender Wettbewerb im Bier-, Glühwein- und Schnapstrinken. Umgefallen, inmitten des Mülls von allen liegengelassen oder gar missbraucht, denn einige Kleidungsstücke befanden sich nicht an der korrekten Stelle. Eingespielte Stimmenaufnahmen warfen Reaktionen der „Freunde“ ein: Toms pickelnarbiger Freund rühmte sich, noch nie so viel Müll und Dosen aufgehäuft zu haben.
Er wollte die „Mikado Queen“ filmen und ins Netz stellen. In
beklemmender Hilflosigkeit kämpfte sich die Protagonistin mit rasendem Herzen und erstickendem Quietschen auf eine Kiste,
betrachtete und kommentierte von oben den Notarzteinsatz an sich selbst. Ob sie überlebte oder nicht, blieb offen.
„Das Stück eignet sich ideal, das Thema begreifbar zu machen“, leitete Kriminalhauptkommissar Walter Kocheise vom Freudenstädter Referat Prävention die Diskussion ein. Was emotional bei Pubertierenden passiere, wie sie sich aus Selbstüberschätzung und Imponiergehabe in höchstem Maße gefährdeten, bringe dieses Theaterstück im verständlichen Ton nahe.
Susanne Henning sah die Situationen realistisch wiedergegeben, wie sie sie erlebte, wenn sie
auffällig gewordenen Kindern und deren Eltern Hilfe anbiete. Solche Situationen zu besprechen und die Betroffenen herauszuholen, bezeichnete sie als mühselige Arbeit.
Horb und anderswo
Regisseurin Dorothee Jakubowski fand dieses Stück wertvoll, denn es zeige „ein Mädchen von nebenan, das erlebe, was jeden treffen kann“. Das offene Ende sei beabsichtigt, obwohl es manche Betrachter in den Schulen überfordere. Doch eine Person, die sich auf Alkohol einlasse, wisse nicht, wie es ende. „Die Realität ist gnaden- und schonungslos“, dies drücke das Stück hautnah aus. So könne es sich auf jedem Weihnachtsmarkt in Horb und anderswo abspielen.
Michael Schlemmer, der mit einer stattlichen Gruppe der Suchtkrankenhilfe Aldingen angereist war, vermisste Eltern mit 16-jährigen Kindern unter den Besuchern. Gerade diesen gelte die Aufklärung, welche Gefahren im frühen Alkoholmissbrauch liegen und wie sie eskalieren. Er sehe eine steitg sinkende Hemmschwelle der Einsteiger. Wenn sich einmal ein Alkoholgedächtnis gebildet habe, sei die Rückfallgefahr immens, die Sucht schon im vollen Gange, Wohlgefühl nur noch beim Bierflaschengeräusch zu spüren. Weitere Diskutanten äußerten sich freimütig, erst durch Therapien den Ausstieg aus dem Teufelskreis gefunden zu haben. Darum engagierten sie sich in Selbsthilfegruppen zur Warnung für andere in einer Welt, die zunehmend egoistisch geworden sei. Besoffene Menschen in hilfloser Lage brauchten kein unbeteiligtes Wegsehen oder zynische Bemerkungen, halt Pech gehabt zu haben, sondern Rettung und Hilfe von fachlich geschulten Kräften. Susanne Henning hob die Selbsthilfegruppen als positive Beispiele heraus, die mitmenschliches Interesse aneinander zeigten.
Dorothee Jakubowski berichtete, wie sie von Sommenfeldts Text, den sie „packend schnell gelesen“ hätte, geradezu in die Darstellung hineingezogen wurde. Das Stück bewerte nicht; es beschreibe lediglich, wie es sein könnte, darum berühre es die Zuschauer.
... Während eines Sprechertrainings bei Andreas Schnell entdeckte dieser die weite Gefühlspalette und das ausgeprägte Talent der jungen Künstlerin Elisabeth Marion Kaiser, die sich in nur zwei Monaten Jakubowskis Regiekonzept und den 45-minütigen Monolog einprägte.
Für ihr Theaterprojekt „Koma“ wurde den Dettinger Theaterwelten bereits manche Wertschätzung zuteil, nach den Aufführungen an Schulen beschäftigten sich die Jugendlichen noch lange mit der gezeigten Situation des Mädchens. Der Jugendfonds des Landkreises Freudenstadt bewertete das Stück als so bedeutsam, dass er einen Förderbetrag für sechs Aufführungen bewilligte, den Prinzipalin Dorothee Jajubowski von den Theaterwelten „Das Chamäleon“ den Veranstaltern bei der Buchung zugute kommen lässt.